Sabine Straßburger

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2007 Rainer Beßling

Maß - Norm - Format | Farbe

Rainer Beßling // Maß – Norm – Format | Farbe

equal 7 – 2m²  2006, 200x150cm, 2-tlg Öl/Leinwand

Monochrome Grundflächen in unterschiedlichen Farbnuancen oder Farbkontrasten stoßen aneinander. Gleiche Flächeninhalte verteilen sich auf unterschiedliche Formate. Begrenzungsmarkierungen stecken eine Bildfläche ab, die einen Ausschnitt setzt. Ein Fenster und ein Feld entstehen, in dem sich Bildstandard und individuelle Fassung, Welt und Weltbetrachtung, Erinnerung und Repräsentation von Wahrnehmung treffen. Manchmal schließen parallele Farbbalken wie Scharniere oder Gleichheitszeichen Flächen mit verschiedenen Farben und Formaten zusammen. Mal markieren Linien als Abstandshalter einen offenen Binnenraum. Auch treten Bilder in Teilstücken auf, und der Betrachter empfindet die Aufforderung zur Co-Autorenschaft unmittelbar. Hier sind aktive Wahrnehmung und gegebenenfalls die eigene Geschichte mit gefordert.
Sabine Straßburger hat ihre Bildsprache mit großer Konsequenz geschliffen und führt in ihren jüngsten Arbeiten die Grundthemen ihres Werks in verdichteten Formen weiter. In frühen Arbeiten verwendet die Künstlerin archaische Zeichen auf pastosem Malgrund. Die Zeichen sind nicht entzifferbar, aber sie behaupten eine Bedeutung, schaffen die Aura eines Rätsels und befördern den Betrachter zum Spurenleser und Bildarchäologen. Lautmalerische Titel unterstreichen den Eindruck von Fundstücken aus fernen Kulturen und vergangenen Zeiten.
Sprachpartikel lösen in den folgenden Arbeiten die unbestimmten Zeichen ab. Damit ist Straßburger in der künstlerischen Praxis bei einer in ihrer ästhetischen Wahrnehmung schon früh ausgebildeten Doppelperspektive angelangt. Sprache und Malerei gehören in ihrem Kunstverständnis zusammen. Weil sie Bilder von deren sprachlicher Erschließung nicht trennt, baut die Künstlerin Bilder ähnlich wie Sprache auf. Allerdings nutzt und pointiert sie auch die Offenheit, die Bildtafeln von Texten unterscheidet.
So greift sie in ihren Bildfolgen die Zeichen zwischen den Wörtern auf: Punkte, Doppelpunkte und Klammern schreiben sich in das fein mitschwingende Farbmaterial ein. Die Interpunktion repräsentiert die Rahmen der Sprache. Mit ihr wird der Textfluss gegliedert und geordnet. Mit ihr wird Gleiches zusammengebunden, werden Strukturen konstruiert, Ebenen geschichtet und Bezüge geklärt. Isoliert verwendet und damit von der Hilfsfunktion in die Hauptrolle befördert, verweist die Interpunktion auf die Zwischenräume der Sprache im doppelten Wortsinn. Die Leere zwischen den Klammern wird zur Projektionsfläche für den Betrachter. Zugleich verweist das Zeichen auf die Konnotationshöfe und Korrespondenzräume der Sprache, auf den Klang im Rücken der Wörter, der in jedem Ohr einen anderen Resonanzboden findet.
Noch ein anderes konstituierendes Merkmal der Sprache findet sich in der bildkünstlerischen Arbeit von Sabine Straßburger wieder: Konvention und Generalisierung. Sprache schließt Erfahrungen und Weltsicht in verbindlichen Formeln ein, verknüpft Zeichenkörperlichkeit mit Dingwelt, abstrahiert in ihrer kommunikations-fördernden Formelhaftigkeit von der individuellen Welterfassung und eignet sich dennoch weiter prächtig als Gefäß für objektive und subjektive Befüllung.
Welche Konventionen dem Bild zugrunde liegen, exemplifiziert Sabine Straßburger in Anknüpfung an eine Entdeckung bei der Betrachtung französischer Malerei des 19. Jahrhunderts. Sie stellt fest, dass bestimmte Formate mit bestimmten Genres korre-spondieren . Die Maße für Porträt, Landschaft und Marinebilder repräsentieren feste Normen mit erstaunlicher Langlebigkeit. Eine Erklärung mag die Entsprechung des Formats mit dem Sujet sein. Doch Straßburger interessiert sich mehr für das Prinzip hinter der Normierung als für die Gründe einer konkreten Konvention.

Nr. 50 [frz. Porträt] 2005, 120x200cm, 2-tlg Öl/Leinwand

Die Malerin führt die Formatnormen auf ihre strukturellen Grundlagen zurück und zeigt sie frei von Motiv und Figur in purer Flächenbestimmung. Dabei verwendet sie unter-schiedliche Begrenzungsverfahren: Balken als Abstandshalter, Passermarken, Linien, die ein Rechteck beschreiben. Normierte Maße, über Maßzeichen ausgewiesen, stecken den Rahmen für das Bildgeschehen ab, markieren den Bildausschnitt, in den Wirklichkeit transformiert und projiziert wird. Der Bildinnenraum wird zu seiner Umgebung in Bezug gesetzt. Die Bildfläche als Bildinhalt variiert zwischen Offenheit und Eingrenzung.

Nr. 6 [frz. Porträt] 2003, 60x100cm, 2-tlg Öl/Leinwand

Sabine Straßburger stellt die vorgefundenen Formate in ihre eigenen Rahmen. Sie selbst schätzt extreme, balkenähnliche Abmessungen, in denen sich Wirklichkeits-anschauung und Imagination nicht ohne geschärfte subjektive Setzung unterbringen lassen. So reiben sich Konvention und Individualität. In manchen Fällen greift die Künstlerin Teilstücke der historischen, auf das Normengerüst reduzierten Bilder auf und lässt die Leerstelle als sinnfälligen Impulsgeber für die Interpretation des Betrachters mitspielen.

teils [frz. Porträt Nr. 60] 2006, 175x130cm, 2-tlg Öl/ Leinwand

In der Thematisierung von Maß und Norm finden sich neben der Korrespondenz von Format und Genre noch andere Bezugssysteme: die Proportionalität zwischen Künstler und Bild, zwischen Betrachter und Bild, zwischen Bild und Raum. Die Physis des Künstlers prägt Ausdehnung und Präsenz des Bildes. Es macht einen Unterschied, ob sich ein Bild auf einem Monitor in der Totale oder im Detail zeigt oder ob sich der Betrachter einem Bild in einem realen Raum mit seinem ganzen Körper in verschiedenen Abständen nähert.
Das Interesse an Ordnungsmustern, an Normen und Maßen verbindet sich in Straßburgers Malerei unauflöslich mit dem ordnenden Bildverfahren selbst. So wie das Format in der Analyse als Inhalt verhandelt wird, erscheinen auch Präsentation und Reproduktion als Teil der Komposition. Die Zurichtung der Farbe bei der Reproduktion wird durch den Verweis auf die vier Grundfarben beim Druckvorgang thematisiert. Ein Paar „gleicher“ Bilder nebeneinander dokumentieren die Aussichtslosigkeit, zweimal das gleiche Bild zu malen.

Nr. 2 [frz. Porträt] 2007, 60x50cm, Öl / Leinwand

Die Künstlerin reflektiert, was sich durch Format und Farbe unbewusst in die Erinnerung einschreibt, wie Format und Farbe die Wahrnehmung lenken. Sie spielt mit der scheinbar objektiven Bildrealität, die in jedem einzelnen Betrachter auf unterschied-liche Weise gebrochen wird. Die Konstruktion von Wirklichkeit erfolgt durch die Verbindung von Eindrücken und Erfahrung. Auch die Betrachtung von Bildern ist ein hochselektives und aktives Verfahren. Das Bild ist nur der Ausgangsimpuls. Jeder Betrachter nimmt anders wahr, jeder erinnert anders. Mit zeitlichem Abstand verdichtet sich ein Bild, das bleibt, und dabei nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, was am Anfang stand. In Straßburgers Arbeiten ist das Bild gleich so bereit gestellt, dass es zusammengesetzt und weiter formuliert werden muss.

teils [frz. Porträt Nr. 40] 2005, 120x35cm, Öl/Leinwand

Dass wir auf das Angebot zur Konstruktion eines eigenen Bildes eingehen, ist in der Präsenz und Suggestivkraft von Sabine Straßburgers Malerei begründet. Das Nachdenken über die Wirkungsbedingungen von Malerei ist mit der unmittelbaren Wirkung des Bildes kurzgeschlossen. Dass analytische und zeichenhafte, reflexive und sinnfällige Malerei keine Gegensätze sind, bewirkt vor allem die Farbe. Sie stellt den objektivierenden und recherchierenden Verfahren die Poesie und Emotionalität zur Seite.
Dabei steht auch die Farbe selbst für die Ambivalenz in der Wahrnehmung. Vermeintlich objektiv unterscheidbar und in Systeme eingepasst, ist sie unter den künstlerischen Mitteln das am schlechtesten Fixierbare. Schon die Grundfähigkeit des Farbensehens ist unterschiedlich verteilt. Die Farbrezeption ist ein komplexer Prozess: Licht, Umgebungsfarbe, Sättigung, Größe und Format der Farbfläche, die plastische Anmutung des Farbkörpers spielen in der Wirkung mit. Farbe ist kaum zu generalisieren, trägt persönliche Erfahrungen und emotionale Potenziale der Künstlerin in sich. In ihr vermitteln sich Ausdruck und Wirkungsabsicht. Stoff und Wesen hinter den Dingen finden in der Farbgebung eine konturenlose Gestalt.
Sabine Straßburger macht in ihren Bildern erkennbar, wie sich die Farbgebung vollzogen hat. Farbkarten klären über die Zusammensetzung und Schichtung auf. Mit diesen Verweisen auf den materiellen Entstehungsprozess dämpft die Künstlerin das Bedürfnis, darüber nachzudenken, in welchem Gefühlszustand oder aufgrund welcher Erfahrung sie sich für eine bestimmt Farbe entschieden hat. Die Objektivierung konzentriert den Blick auf das Bildgeschehen selbst und schafft so größere inhaltliche Offenheit.

Nr. 40 [frz. Marine] 2005, 100x135cm, Ö /Leinwand

Mit der Ölfarbe hat die Künstlerin zu einem langsam wachsenden Farbkörper gegriffen, der seine materielle Zusammensetzung und seinen Auftrag sicht- und differenzierbar in sich trägt. Im nachgelassenen Malprozess lässt sich die Such-bewegung der Künstlerin rekapitulieren. Die praktische Recherche nach der richtigen Verbindung von Binnenfarbe und Umgebungsfarbe ist mit in die ruhig pulsierende Malschicht eingeschlossen.
Wie weit Farbe selbst als Zeichen und Inhaltsträger fungiert, wird an einer Reihe von Familienporträts deutlich, die Straßburger im Anschluss an ihre französischen „Format-Funde“ gemalt hat: Die Farben in den Formaten machen die Protagonisten des Familienlebens deutlich, ohne dass sie figürlich abgebildet sein müssen. Die Farbe als archetypischer Unterscheidungsträger bewahrt ihre ursprüngliche Signalkraft auch im ästhetischen Kontext. Figuren, Gesichter sind zum großen Teil genetisch angelegt. Was dahinter steht, ist der Künstlerin wichtiger. Straßburgers Porträtformate mit ihren Farbkörperschichten und ihrer zugeschnittenen Peripherie fügen sich zu einer Gesamtkomposition, die auch als Selbstporträt gelesen werden könnte. Im Porträt suchen wir Betrachter bekanntlich vor allem uns selbst.
Schon im Farbauftrag ist Zeit eingeschrieben. Und auch das Format ist keine statische Größe, sondern legt mit unterschiedlichen Bewegungsrichtungen verschiedene Geschwindigkeiten nahe. Im Unterschied zur linear organisierten Sprache ist im Bild alles gleichzeitig vorhanden. Zeit wird auf verschiedenen Ebenen angehalten und eingeschlossen. Die einzelnen Stränge und Schichten lassen sich isolieren und linear verfolgen. Die Bildkomposition aber behauptet ihre ganze Kraft nur in der Gleichzeitigkeit der einzelnen Elemente. Alles bleibt mit allem verwoben, Anfang und Ende eines Zeitverlaufs sind in ein schwebendes Nebeneinander überführt. Die Schwierigkeit bei der Bildlektüre ergibt sich daraus, dass der Betrachter gewohnt ist, linear zu lesen. Die Bewegung des Auges vor dem Bild vollzieht sich selektiv.

Nr. 15 [frz. Landschaft] 2000, 60x155cm, 2-tlg Öl/Leinwand

Die Zeit, die in die Entstehung der Bilder eingeflossen ist, eine subjektive und eine objektive, historische und eine individuelle Zeit, trifft sich mit der Wahrnehmungs-dauer. Betrachtung lässt sich nicht ohne Verlust beschleunigen. Die Welt, das Leben, die Dinge, die Bilder brauchen ihre Zeit, auch das ist eine Frage der Maßstäblichkeit. Neue Bilder schließen sich nur dann mit dem Bildspeicher zusammen, gelangen nur dann in die Erinnerung, gewinnen und fördern also nur dann Identität, wenn sich die Wahrnehmung Zeit lässt. Bilder, die zur persönlichen Proportionalität aus eigener Perspektive und zu eigenem Zeitmaß aufrufen, emanzipieren den Betrachter von der Verführungsmacht des Visuellen.
Mit dem Aspekt der Zeit verbindet sich eine zentrale erzählerische Komponente in Straßburgers Malerei. Ihre Bilder, die ihre Nähe zur Sprache teils offen bekennen, tragen Geschichten und Geschichte in sich und verhandeln in struktureller Zuspitzung und inhaltlicher Verdichtung Fragen praktischer Philosophie. Die Organisation des Blicks auf die Wirklichkeit, die Strukturierung der Arbeit und des Denkens sind nicht nur Themen der ästhetischen Praxis, wobei ästhetische Praxis als Produktion und Rezeption von Kunst als vorzügliches Übungsfeld eines selbstbestimmten Lebens betrachtet werden kann.

1:1 [frz. Landschaft Nr. 50] 2007, 160x370cm, 2-tlg Öl/Leinwand

Ein Format, das heißt einen angemessenen Maßstab für das eigene Leben finden, auf der Bildfläche Klarheit schaffen, heißt, im eigenen Denken, Empfinden und Fühlen aufzuräumen. Präziser in der Formulierung zu werden, ist ein Gebot, wenn Zeit nicht mehr als unendlich gedacht werden kann. Eine Entscheidung ist unumgänglich: Vergessen oder mit dem Erlebten offensiv umgehen. Vergangenheit wird durch Generalisierung handhabbar als Zukunftsmaß. Wer sortiert und durchlüftet, macht die Welt lesbarer und das Dasein lebbarer.
So schärft die Künstlerin Wahrnehmung durch den Blick auf Basis und Essenz – nicht nur der Bilder. Malerei heißt Spuren aufgreifen und hinterlassen, heißt zurück, aber vor allem nach vorne denken. Dem schleichenden Verlust einer Wahrnehmungs- und Bildlesekultur setzt Sabine Straßburger eine Schule des Sehens als Kurs des ethischen Denkens entgegen. „Alles sollte so einfach wie möglich sein, aber nicht einfacher“, zitiert sie einen Satz Einsteins, der als Leitformel ihrer ästhetischen Praxis dienen könnte.

in Katalog: Sabine Straßburger | Maßnahmen, 2007, Städtische Galerie Bremen